
Polestar 4: Durchblick auch ohne Heckscheibe (Kurztest)
03.06.2025
Die elektrische Volvo-Schwester verzichtet beim SUV-Coupé auf die Heckscheibe. Behalte ich trotzdem den Durchblick?
Rückblick
2017 startete die Volvo-Schwester als eigenständige Marke. Ähnlich wie Tesla wurde anfangs versucht, ausschließlich über Internet zu verkaufen. Jetzt gibt es auch sogenannte “Test Drive Hubs”, bei der man die Fahrzeuge der schwedischen Marke, die vorrangig bei der Mutter Geely in China, aber auch in den USA produziert werden, probefahren kann.
Gesagt, getan. Ich gehe also auf die Polestar-Website und suche mir das außergewöhnlichste Modell aus, nämlich das SUV-Coupé Polestar 4, das ohne Heckscheibe auskommt. Was für ein Glück! Bereits am nächsten Werktag darf ich mir das Auto abholen und zwar beim Autohaus Teuschl in Krems. Für mich persönlich noch mehr Glück, denn das einzige niederösterreichische Test Drive Hub ist nur 10 Minuten Fußmarsch von meiner Wohnung entfernt. Die Website von Polestar ist wie erwartet skandinavisch kühl und klar gestaltet und entsprechend war die Reservierung einfach und klar wie der Zusammenbau eines IKEA-Beistelltisches.
Eine Reservierung über das Autohaus ist nicht möglich und auch den Kauf muss ich über Internet abwickeln. Was kann man im Autohaus erwarten, wenn es am Kauf nicht verdienen wird? Werde ich widerwillig auf einen Schlüsselsafe verwiesen? Mitnichten! Ein äußerst freundlicher Verkäufer heißt mich willkommen. Ich muss auf dem Tablet noch ein paar Daten ausfüllen und den Führerschein scannen lassen, dann geht es los zu einem blitzblanken Testfahrzeug in perfektem Zustand. Es folgt eine ausgesprochen kompetente Einweisung, bei der keine Fragen offen bleiben. Das ist die richtige Einstellung!

Anblick
Optisch ist der Polestar 4 ein echter Skandinavier. Klares Design, wunderschön und trotzdem mit starkem Charakter. Die Verwandtschaft mit Volvo ist unverkennbar, aber dennoch ist der Polestar etwas gewagter als die altehrwürdige Schwester.
Sogleich stellt sich die Frage, was der Polestar 4 eigentlich darstellen soll. Ich hab gelesen, dass es ein “SUV-Coupé” sein soll. Mit einer Höhe von nur 1,54 cm ist er aber gerade einmal 4,4 cm höher als ein Renault 5 E-Tech und die Bodenfreiheit wird sicher auch von dem einen oder anderen “normalen” Fahrzeug überboten . Ich persönlich würde den Polestar 4 in die Nische Oberklasse-Hatchback einordnen, dort wo in den 1980er- und 1990er-Jahren der erste FIAT Croma und später in den Nuller-Jahren dessen Nachfolger sowie der Opel Signum und der Renault Vel Satis unterwegs waren.
Was den Sino-Skandinavier jedoch von diesen und von allen anderen PKWs unterscheidet, ist die fehlende Heckscheibe. Kann das gut gehen?

Einblick
Mein erster neugieriger Blick wandert somit natürlich in den Kofferraum. Über 500 Liter soll dieser fassen und damit mehr als bei den meisten E-SUVs im Oberklasse-Format. Schließlich braucht so ein 94 kWh-Akku ja auch einen gewissen Platz.
Die Heckklappe öffnet elektrisch und ich bilde mir ein zu hören, dass sich der Öffnungsmechanismus leichteres Spiel hat als mit einer Klappe, in der eine schwere Glasscheibe eingebaut ist. Jetzt habe ich ein riesiges schwarzes, aber gut ausgeleuchtetes Loch vor mir. Ich weiß: Egal, was ich da jetzt reinstopfe, es wird mir nicht die Sicht zurück nehmen und es wird auch bei einer Vollbremsung keinen Fondpassagieren das Genick brechen.
Lediglich für Hundebesitzer wird das Auto dadurch zum No-Go, aber für die gibt es ja bei Polestar und ganz besonders bei Volvo einige Alternativen. Umgekehrt könnte ich, wenn ich mich für den Polestar 4 entscheide, die Anschaffung eines Familienhundes endgültig oder zumindest bis zum Ende des Leasingvertrags zum No-Go erklären. Oder wäre das gemein?

So, jetzt möchte ich aber endlich fahren. Damit ich einsteigen kann, fahren bei Näherung mit dem “Schlüssel” die Türgriffe aus. Der Schlüssel ist in diesem Fall ein schwarzer, tastenloser Transponder, ungefähr in der Größe der Schlüsselanhänger, in die man Passfotos geben kann. Die Türgriffe sind angenehm groß und ordentlich anzupacken. Damen (und vielleicht auch Herren) mit zum Understatement-Design des Autos nicht ganz passenden langen Fingernägeln brauchen also nicht fürchten, diese abzubrechen oder damit das Auto zu zerkratzen.

Neben der Heckscheibe fehlt dem Autos noch etwas, nämlich die Rahmen der Scheiben. Das hätte ich mir eigentlich beim Subaru Solterra (siehe hier) erwartet.

Der Innenraum ist freundlich und hell gestaltet, aber trotzdem pflegeleicht. Polestar setzt stark auf recyclebare oder sogar recycelte Materialen.



Auch auf den hinteren Plätzen geht es großzügig zu. Die schwarze Wand hinter den Köpfen stört die Atmosphäre gar nicht, zumal man ohnehin durch das großzügige Dachfenster einen tollen Ausblick genießt. Die Fondpassagiere haben übrigens sogar die Möglichkeit von hinten Soundanlage und Klima zu steuern. Für mich stellt sich hier die Frage, ob das daran liegt, dass schwedische Eltern mittlerweile nichts mehr zu melden haben oder ob es eher daran liegt, dass man mit diesem Modell auch chinesische Manager ansprechen möchte, die sich bekanntlich gerne auf der Rückbank sitzend chauffieren lassen.

Überblick
Jetzt geht es los! Nach sicherlich über 100.000 Kilometern in diversen Kleintransportern hatte ich zwar keinerlei Angst, was die fehlende Heckscheibe betrifft, aber doch irgendwie gewisse Bedenken, die wunderschönen, so wie die Fenster rahmenlosen Rückspiegel sind ja doch etwas kleiner als die von FIAT Ducato, Renault Master & Co.
Aber alles kein Problem. Dort wo sonst der Rückspiegel sitzt, sitzt nun ein Bildschirm, der die Bilder der in der Dachfinne integrierten Kamera überträgt. Trotz meiner bereits einsetzenden Weitsichtigkeit hatte ich damit überhaupt kein Problem.
Sobald das Auto merkt, dass ich einparken möchte, zeigt es mir auf dem großen Bildschirm über der Mittelkonsole zusätzlich den Blick aus der Vogelperspektive sowie je nach Fahrtrichtung die Front- oder Heckkamera. So wurde trotz der Breite von 201 cm (bzw. 214 cm mit Spiegel) Einparken zum Kinderspiel.


Bevor ich nun zum Thema Fahren komme, ein Zwischenfazit zur fehlenden Heckscheibe. Durch das Fehlen darf der Kofferraum bis oben hin beladen werden, ohne dass das Gepäck die Sicht behindert oder zur Gefahr beim Bremsen wird. Das dadurch ersparte Gewicht schont einerseits den Öffnungsmechanismus und senkt den Schwerpunkt. Zusätzlich erspart man sich elektrische Bauteile wie Heckscheibenheizung und Heckscheibenwischer. Auch das hilft natürlich, den Stromverbrauch zu senken. Der Innenraum heizt sich weniger auf, was besonders im Sommer hilft, den Verbrauch zu senken. Wer jetzt nicht unbedingt einen Hund im Käfig transportieren muss (es gibt ja auch Sicherheitsgurte für Hunde), wird keinen Nachteil erleiden.
Manche Bedenken erweisen sich verdammt schnell als unbegründet, wenn man es einfach einmal ausprobiert hat!

Blick auf die Fahrbahn
Beim Fahren musste ich natürlich auf die Fahrbahn blicken, daher gibt es davon kein Foto. Ich durfte das Dual-Motor-Modell fahren. Das heißt: vorne und hinten treibt jeweils ein 200 kW-Motor mit 343 Nm Drehmoment. Das macht insgesamt 400 kW oder 544 PS und 686 Nm. Der leer 2.355 kg schwere Polestar zischt damit in 3,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h – vorausgesetzt, man hat den Performance-Modus eingeschaltet. Doch auch im Normalmodus sind die Fahrleistungen beeindruckend.
Nur mal so für alle, denen die Werte nichts sagen, da sie (wie ich) normalerweise nicht in diesen Leistungsdimensionen unterwegs sind: Der Porsche 911 hat in der Basis-Version 290 kW (394 PS) und braucht 4,1 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Um den Polestar zu toppen braucht man dann schon einen Carrera GTS oder einen GT3… Allerdings erlaubt der Porsche 250 km/h, während der Polestar schon bei 200 km/h abriegelt. Die brave große Schwester Volvo erlaubt übrigens maximal 180 km/h.
Polestar gibt als Verbrauch 19,0 bis 21,7 kWh auf 100 km an. Obwohl ich zum ersten Mal mit diesem Auto gefahren bin, nicht besonders auf die Klimatisierung geachtet und natürlich auch die Beschleunigung ein bisschen testen musste, bin ich tatsächlich auf unter 20 kWh/100 km gekommen.
Noch einmal zur Veranschaulichung: 1 Liter Benzin entspricht ca. 8,5 kWh Strom. Ich habe also ein Fahrzeug mit den Leistungsdaten eines Porsche 911, jedoch fast 1 Tonne mehr Gewicht mit “umgerechnet” 2,34 l/100 km bewegt!
Die WLTP-Reichweite von 590 km erscheint da mit zurückhaltendem Fahren durchaus erreichbar, was den Polestar zur perfekten Reiselimousine macht.

Fast genauso beeindruckend wie den Verbrauch fand ich ja die harman/kardon-Soundanlage. Also falls ich mir das Auto eines Tages doch leiste, würde ich beim Laden nicht mehr nach Hause gehen, sondern die Zeit mit Musikgenuss vertreiben – mit den superbequemen und dennoch besten Halt gebenden Sitzen kein Problem. ABBA, Roxette, Avicii und die Swedish House Mafia würde ich da schon einmal auf die Playlist setzen. Dazu würde ich dann auch die vom Sonnensystem beeinflusste Innenraumbeleuchtung ausprobieren.

Ausblick
Den Polestar 4 gibt es derzeit in Österreich als Dual Motor und somit als Allradler um nicht einmal 70.000 EUR. Wer auf Frontmotor und -antrieb verzichten kann, spart 10.000 EUR, muss allerdings 7,1 Sekunden warten, bis der Wagen von 0 auf 100 km/h gesprintet ist.
Apropos warten: Wer jetzt bestellt, muss allerdings fast ein halbes Jahr warten. Warten müssen wir leider auch noch auf die Leasingoptionen auf der Website.
Für uns Ösis zur Einordnung: 70.000 klingen natürlich nach sehr viel und werden für die meisten Privatpersonen zu viel für einen PKW sein, keine Frage. Wer einen Audi A6, einen 5er-BMW oder eine Mercedes E-Klasse anschaffen will und sich nicht mit Basismotorisierung und/oder -ausstattung zufrieden gibt, landet aber auch schnell bei diesem Betrag, als Allradler sowieso und mit der umfangreichen Ausstattung des Polestar erst recht. Mit den Leistungswerten des Polestar wird es dann sowieso sechsstellig.
Fazit
Der Polestar 4 bietet die Leistungen eines Sportwagen zum Preis eines eher einfachen Benziners der oberen Mittelklasse. Zusammen mit geringem Verbrauch, hoher Reichweite, beeindruckendem Komfort und starkem Design ergibt das die perfekte Reiselimousine. Auch für die mittleren bis oberen Managementetagen ist er eine interessante und sogar preiswerte Alternative.
Die fehlende Heckscheibe? Hätte ich jetzt im Fazit fast vergessen. Darf ich auch, ich will eh keinen Hund.
Der Großteil der Fotos wurde übrigens bei der Engabrunner Warte in der Marktgemeinde Grafenegg aufgenommen. Wer zur Fuß dorthin wandern möchte, findet auf Weinbergwandern.at eine ausführliche Beschreibung!