
Dass sich neue Moden in der Masse durchsetzen, hat ja immer auch mit der Verbreitung zu tun. Anfangs sieht man die neuesten Trends in den Modezeitschriften, dann in den Auslagen der Designerboutiquen, schließlich an den Körpern der modebewussten Trendsetter*innen, und irgendwann trägt sie (fast) jede*r – und man kann die Teile günstig beim Mode- oder sogar Lebensmitteldiscounter kaufen.
Die Zeit der schnellen Trends, in der man innerhalb weniger Jahre von kurz auf lang oder von eng auf weit und zurück gewechselt ist, ist jedoch spätestens seit der Jahrtausendwende vorbei. Trotz Fast Fashion wollen Frauen – und vor allem Männer – Kleidungsstücke mittlerweile über mehrere Jahre hinweg tragen. Nicht zuletzt deshalb greifen viele bevorzugt zu Schwarz, Weiß, Grau- und Blautönen. Während 1984 selbst Modemuffel jemanden, der in 1979 gekauften Klamotten herumgelaufen ist, sofort als finanziell schlechter gestellt identifiziert hätten, fällt es 2024 nicht einmal auf, wenn jemand Kleidungsstücke aus dem Jahr 2019 trägt.
Führt KI zur weiteren Verlangsamung der Modetrends?
Durch KI könnte sich die Halbwertszeit von Moden noch einmal verlängern. KI wird bekanntermaßen nicht mit tagesaktuellen Daten, sondern mit älteren Informationen trainiert. Gehen wir einmal davon aus, dass ein Bild im Schnitt etwa sechs Jahre lang online bleibt, das durchschnittliche Bild im Internet also drei Jahre alt ist. Dazu kommt, dass – trotz Modeinfluencer*innen – die durchschnittlich abgebildeten Personen den neuesten Trends oft ein Jahr und länger hinterherhinken. Schließlich dauert es vom Beginn des KI-Trainings bis zum Release eines Modells und dessen Nutzung mitunter ein ganzes Jahr. Pi mal Daumen kommen wir so zu dem Schluss, dass das durchschnittliche Kleidungsstück, das ein KI-Modell im Dezember 2024 kennt, die neueste Mode von 2019 zeigt.
Wenn ich also schnell ein Bild einer modisch gekleideten Frau generieren lasse, wird sie wohl Kleidung tragen, die durchschnittlich fünf Jahre alt ist. Wenn ich dieses Bild poste, wird es die Wahrnehmung von „normaler“ Kleidung weiter festigen. Aber nicht nur das: Die KI-Modelle könnten auch mein generiertes Bild und Millionen anderer zu diesem Zeitpunkt erstellte Bilder für zukünftige Trainings nutzen. Dadurch zementiert sich die Darstellung von eigentlich nicht mehr aktueller Mode weiter.
Was für ein Glück für die Modeindustrie, dass weite Damenjeans gerade noch rechtzeitig vor der breiten Nutzung von DALL-E und Co. im Straßenbild Verbreitung fanden!
Models & Influencer: Risikofreiheit statt Persönlichkeit
Auch in der Präsentation von Mode wird sich einiges ändern. Die Ära der Supermodels wie Cindy Crawford, Claudia Schiffer oder Helena Christensen ist längst vorbei. Einer Kate Moss hat man ihre Skandale noch nachgesehen – rund 20 Jahre später undenkbar. Doch mittlerweile wird der Mensch hinter dem Model immer mehr zum „Sicherheitsrisiko“ für Unternehmen. Deshalb setzen viele Firmen auf austauschbare, wenig markante Typen, anstatt auf „Persönlichkeiten“. Im Online-Bereich greifen sie zunehmend auf CGI- oder KI-generierte Models zurück. Es gibt sogar schon KI-generierte Influencer*innen mit Millionen Followern. Diese sind relativ risikofrei: Sie nehmen keine Drogen, werden nicht magersüchtig, werden niemals der sexuellen Belästigung beschuldigt und äußern keine fragwürdigen politischen Ansichten – zumindest solange ihre Erschaffer das nicht wollen.
Doch brauche ich überhaupt noch Models, Testimonials oder Influencer, wenn ich selbst – oder besser gesagt mein Avatar – mir die Kleidung präsentieren kann? Einfache Tools, die Frisuren oder Brillen auf Köpfe montieren, gibt es schon seit fast 30 Jahren, wenn auch zweidimensional und ohne KI-Unterstützung. Mit KI wird diese Funktion jedoch viel umfangreicher. Die zukünftige Braut könnte ihr virtuelles Ich dann nicht nur im virtuellen Brautkleid vor einem neutralen Hintergrund sehen, sondern damit gleich durch die Kirche schreiten – und sogar simulieren, ob das Kleid mit wachsendem Babybäuchlein noch passt. Der Professor wird seine neue Brille nicht mehr anhand von Fotos jugendlicher Models im Alter seiner Studenten auswählen, sondern simulieren, ob sie ihm in der Vorlesung die gewünschte Seriösität verleiht.
Die Technik steht im Grunde schon bereit. Es bleibt die Frage, ob die Hersteller und vor allem wir Konsument*innen das auch wollen.
KI-unterstützte Langeweile?
Falls wir unsicher sind, kann uns KI natürlich auch helfen, das passende Kleidungsstück in unserem Kleiderschrank zu finden. Vielleicht entdecken wir dadurch längst vergessene Teile wieder oder erkennen, dass wir selbst mit ein paar Jahren und ein paar Kilo mehr darin noch gut aussehen.
Doch Vorsicht! Hier lauern Gefahren: KI könnte uns auch davon abraten, bestimmte Kleidungsstücke zu tragen. Sie könnte älteren Damen vom Minirock, weniger schlanken Mädchen von engen Jeans und weniger muskulösen Männern vom Sportshirt abraten – schlicht, weil diese nicht den durchschnittlichen Träger*innen entsprechen, die das KI-Modell in seinem Training kennengelernt hat.
Es wird an uns liegen, auf uns selbst zu hören und uns auch ohne Idealfigur oder -alter so zu kleiden, wie wir wollen. Für die Modeindustrie bedeutet das jedoch eine Herausforderung. Schließlich kann kein Hersteller überleben, wenn er nur für Menschen mit Modelmaßen produziert.
Dieser Artikel erschien erstmalig im Dezember 2024 auf kiwini.eu!
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